Wednesday, January 16, 2008

Schneckenpost

Schneckenpost

(Snail Mail)

by Rolf-Peter Wille

Haben Sie einmal jemandem direkt ins Auge geschaut? Einem Taifun zum Beispiel? Gestern, bei den Fernsehnachrichten, schaute ich in das Auge des Taifuns Daisy und schwören hätte ich mögen, dass es mir plötzlich zuzwinkerte. Da plötzlich wusste ich es: Ein Zyklon ist ein Lebewesen. Ein primitives sicher, mit seinem Zyklopenauge, aber trotz allem ein wabernder Organismus. Gestern nacht auf unserem Dachgarten, auf dem die Blumentöpfe und Backsteine wie hungrige Fledermäuse herumflogen, spürte ich, dass wir - wie Jona im Bauche des Walfisches - im rumorenden Gedärm des Leviathans Daisy steckten.

Taifune und Erdbeben - das sind unsere epischen Katastrophen in Taiwan. Die Natur unserer Insel ist schön und schrecklich, verschwenderisch und tödlich. Aber warum interessieren uns eigentlich nur die riesigen Fußstapfen der Mutter Natur? Ihre kleinen idyllischen Schrecknisse und Wunder sind doch ebenso fantastisch und wir können sie sogar genießen, ohne unser gemütliches Heim zu verlassen. Wir brauchen nur, wie der Zyklon Daisy, unser Auge zu öffnen und die grauen Zellen in unserem Oberstübchen anzuschalten. Sie werden z.B. zugeben müssen, dass regelmäßig Objekte aus unserem Privatleben spurlos verschwinden, Socken, Kaffeetassen, Messer, und obwohl wir Diebe und Geister verdächtigen, kann dies aber doch natürlichere Ursachen haben. Ich besitze eine geschnitzte russische Matrjoschka Schachtelpuppe mit aromatischer Lackbemalung, und plötzlich verschwand sie. Nicht die Puppe sondern die rot-gelbe Bemalung. Meine Matrjoschka schien einen Striptease aufzuführen. Ein Geist hatte ihr heimlich den aromatischen Lack abgeleckt. Doch eines Tages entdeckte ich die Puppe in einem Hexenring von winzigen Lackkügelchen, roten und gelben. Mein Verdacht fiel auf den heiligen Skarabäus, oder auch Pillendreher, der mit seinen Hinterbeinen ganz ähnliche Dungkügelchen dreht. Doch zu unwahrscheinlich ist es, dass sich ägyptische Skarabäen in Taiwan für russische Schachtelpuppen interessieren. Eines nachts weckte mich ein hässliches Kratzgeräusch, das offensichtlich von meiner Matrjoschka stammte. Dann hörte ich ein geflüstertes Kommando auf russisch und, im Bruchteil einer Sekunde, einer Sekunde, die sich für immer in meiner Erinnerung eingeschachtelt hat, warf die Nachttischlampe ihren gespenstischen Schein auf die Schemen zweier Schaben, einer roten und einer gelben, die im Zickzack die Wand hinaufhuschten. Sie verschwanden spurlos im New Grove Dictionary of Music and Musicians, herausgegeben von Stanley Sadie.

Wenn Sie sich dafür entschieden haben, mir keinen Glauben zu schenken - obgleich mein Bericht genau der Wahrheit entspricht - dann lesen Sie bitte die nächste Geschichte, die auf keinen Fall erfunden sein kann. Es ist die Geschichte des steinernen Briefkastens, des geheimnisvollsten Winkels in der Mauer unseres Landhauses. Dieser kompakte Briefkasten ist ein Kunstwerk. Er ist mit Kacheln aus Toledo beklebt und verleiht der Mauer unserer taiwanesischen Datscha jenes einzigartige spanische Ambiente, dass sie nicht hat. Wie Sie wissen sind taiwanesische Landhäuser…, aber ich möchte heute nicht über Stil reden. Begeben wir uns lieber in das geheimnisvolle Innere des Toledo Briefkastens und beginnen wir mit der Inquisition. Verschwindet etwas aus diesem Briefkasten? Richtig! Sie haben es erraten: Briefe. Manchmal verschwinden sie nur teilweise und das zerfetzte Papier fühlt sich schleimig an als hätte es ein Monster verschlungen und wieder ausgespuckt. Selten traue ich mich, meine Finger in den Briefkastenschlitz zu stecken. Falls sie abgebissen würden, die Finger, könnte mein pianistisches Niveau noch weiter fallen. Auch Wespen habe ich bereits in diesem Briefkasten gesehen und sie warten sicher nur darauf, die Hand zu stechen, die sie füttert. Aber können Sie sich meine Überraschung vorstellen, als ich den Briefkasten vollgestopft mit trockenen Zweiglein fand? Aber waren das Zweige? Wer hatte so viele tote Würmer in unseren Briefkasten geworfen?

Doch Würmer waren es nicht. Die Zweiglein waren eher schlangenartig verbogen wie kleine Därmchen. Auch waren sie vielfarbig, genau wie die heiligen Kügelchen der russischen Pillenschaben, und ich fand die Fetzen einer Telefonrechnung in den gleichen Farben. Tiefer noch in den Gedärmen von Toledo entdeckte ich eine saftige Gartenschnecke, die sich in den trockenen Zweiglein versteckt hielt. Es dauerte eine Weile bis meine grauen Zellen die dunkle Beziehung zwischen diesen Objekten erriet. Dann jedoch fiel der Groschen: Wir besitzen einen metabolisierenden Briefkasten! Stellen Sie sich ihn als einen Magen vor, der sich von Briefen und Telefonrechnungen ernährt. Die Schnecke, der Jona im Bauche des Leviathans, fungiert als Enzym und das Produkt sind die trockenen Zweiglein. Aber vergessen wir nicht das kunstvolle Schneckenhaus - aus Telefonrechnungen gebaut.

Nun muss ich endlich zugeben, dass die Schneckenpost einen ganz eigenen nostalgischen Reiz besitzt. E-Mail ist langweilig. Schreiben Sie mir doch mal eine Snail Mail!


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